Seit einem Jahr üben wir. Die Gruppe heißt „Lesezauber im Seniorenheim“ und besteht aus 15 Mädchen und Jungen im Alter von 8 bis 15 Jahren. Alle haben einen Migrationshintergrund – die türkischen Kids sind zum Teil schon in der dritten Generation in Deutschland und antworten auf die Frage, wo sie geboren wurden, erstaunt und etwas angenervt mit „Klinikum!“. Die tamilischen, aserbaidschanischen und russischen Kinder sind fast alle erst vor kurzem zugewandert. Alle sind sehr motiviert und wollen den Menschen im Altersheim Freude bringen und Geschichten vorlesen. Die Regeln für das gute Vorlesen haben wir jetzt 10 Monate lang besprochen und trainiert. Wir wiederholen:
- Man kann nicht aus einem Buch vorlesen, wenn man das Buch vergessen hat!
- Man muss die Gefühle mitlesen!
- Man soll die Zuhörer beim Vorlesen immer schön angucken!
- Die Zuhörer wiederum gucken den Vorleser oder die Vorleserin an! Sie schlürfen während des Vorlesens nicht aus der Teetasse.
- Lachanfälle beim Vorlesen sind doof, vor allem wenn die Geschichte gerade nicht lustig ist.
- Man darf beim Vorlesen nicht nudeln! „Nudeln?“ schreit die Vorlesebande, „oh, lecker Nudeln, können wir uns Nudeln kochen? Oh bitte…!“
- Korrektur: Man darf beim Vorlesen nicht nuscheln!
- Zum Vorlesen im Seniorenheim sind Märchen, Fabeln und kurze Geschichten von früher gut geeignet.Geeignet sind auch Gedichte und Lieder.
- Nicht geeignet sind Comics oder dicke Fantasy-Romane.
Nach dieser langwierigen und umfangreichen Vorbereitung in der Gruppe ist nun echtes Einzelcoaching angesagt. Alle müssen einen Begrüßungstext zu sich selbst erfinden und immer dazu sagen, woraus sie vorlesen werden. Dann geht das Coaching los.
In dem Märchen „Der Schweinehirt“ von Hans Christian Andersen büffelten daraufhin die Hofdamen die Rosen. Auch beim zweiten Vorlesen büffelten sie noch. Nach dem dritten „Büffeln“ konnte das Wort neu identifiziert werden. Die Hofdamen befühlten nun die Rosen.
„An der großen Eiche“ ging gar nicht. Die kleine Ayshe las immer „An der großen Aische“, worüber sich ihr großer Bruder kaputtlachen musste.
Was eine Witwe ist, musste bei „Max und Moritz“ erstmal erklärt werden. „Ach, die Alte mit den Hühnern, die Single ist!“ machte den Beziehungsstatus der Frau Bolte klarer.
„König Dosenbart“ war auch eine tolle Neuschöpfung, die sehr gut zu „Schneefittchen“ passte. Alles aus „Grimmis Märchen“, versteht sich.