Weil er die Bibliothekarin liebte

Ich stehe vor dem Spiegel im Sportstudio, auf den Schultern rechts und links je ein 2½-kg-Gewicht. „Das reicht“, denke ich mir, „hab’ ja schließlich heute genug Bücher geschleppt.“ Neben mir ein junger Mann, groß, dunkler Teint, der mich freundlich anlächelt. „War der nicht letzte Woche auch schon da?“, frage ich mich. „Genauso nett lächelnd?“

Ich bin mir nicht sicher, und nach Bauch, Beine, Po, Rücken, Bizeps, Trizeps usw. endet die Stunde mit einem kleinen Stretching. Beim Wegräumen der Gewichte, des Steppers und der Matte hält der junge Mann inne, dreht sich zu mir um und fragt: „Erinnerst Du Dich an mich?“ Ich gucke völlig blöde und gestehe: „Nein, kennen wir uns denn?“

„Ich war doch jeden Tag in der Kinderbücherei und habe gelesen. Und Du hast mit mir gespielt.“

„Tatsächlich? Wann war das denn?“

„Och, so vor 25 Jahren, ich war total in Dich verliebt. Ich heiße Serhat, weißt Du das nicht mehr?“

Ich weiß es nicht mehr und staune über diesen jungen Mann, der mir erzählt, dass er damals als Hauptschüler seine Qualifikation für das Gymnasium geschafft hat, dass er studiert hat und Ingenieur geworden ist und heute selbst junge Menschen ausbildet. Er wäre diesen Weg sicher nicht gegangen, wenn er damals nicht jeden Tag in die Bücherei gekommen wäre, um mich zu sehen. Und nun ist er selbst Vater und hat einen Jungen, der Bücher liest!

Jetzt freue ich mich auf die nächste Body-Bump-Stunde: Hoffentlich ist Serhat wieder da!

Hingelegt.

Der Berufsstand der Bibliothekarinnen und Bibliothekare hat seinen Ruf. Es handelt sich anscheinend um stille und belesene Menschen, deren sportliche Betätigung beim Wandern startet und dem Besuch eines Yoga-Kurses endet. Da Ausnahmen diese Regel wie immer bestätigen, trifft man vereinzelte Exemplare in Sporthallen und Fitnessstudios, wo sich sich nicht lumpen lassen. Diese Spezies steht manchmal sogar vorne und unterrichtet.
Zum Sport gehört die nachfolgende Entspannung, und so hatte ich mich kurz vor dem Jahreswechsel für die Ausbildung zur ‚ayurvedischen Rückenmassage‘ im März angemeldet. Gleich ging die Sucherei nach meiner Massagebank los: Das Ding war nicht aufzufinden! „Habe ich das vielleicht damals dem Nachbarn von gegenüber geliehen?“, murmelte ich zu mir selbst und, siehe da: Nun suchte der Nachbar! Nach drei Monaten suchte er immer noch nach der fehlenden Kopf-und Nackenstütze, versprach aber, die Bank so im April vorbeizubringen.

Am 23. April, dem alljährlichen Welttag des Buches, heiratete aber erstmal mein Neffe. Er wollte zünftig mit uns daheim feiern und so landeten täglich neue Utensilien vor meiner Haustür: Tische, Bänke, Zelte, Sonnenschirme, Tabletts und diverse Kisten und Boxen. Alle räumten mit und alles hin und her, damit die Party gelänge.
Zwei Wochen später – ich war nun langsam knurrig über den Nachbarn und wollte ihn gerade besuchen – fragte meine Freundin von nebenan: „Sag‘ mal, was ist das hier eigentlich für ein Klapptisch?“
„Keine Ahnung!“, entgegnete ich. „Das Ding steht seit der Hochzeit hier herum und wandert ständig hin und her, weil es allen im Weg herumsteht.“
„Sollen wir mal reingucken?“ schlug sie fragend vor und so versuchten wir gemeinsam, die länglich-schmale, graue Kiste zu öffnen.
„Nein!“, entfuhr es mir beim Hineingucken, „die Massagebank!“
Ab jetzt gibt es Termine: zum Hinlegen, Entspannen und abschließendem Minischläfchen. Hallo Nachbar, Du darfst anfangen!