Neujährchen

Das neue Jahr begann sonnig und der gute Vorsatz, mehr zu lesen, war bestens vorbereitet. Das Buch „Titos Brille“ von Adriana Altaras lag schon auf dem Sofakissen, als es schellte. Jason, Fynn, Valentina und Meike – alle zwischen fünf und neun Jahre alt – wollten rein. Hinter ihnen lag haufenweise Böllermüll, auch die Fetzen der Knallerbsen, die Jason am Sylvesterabend vergnüglich und direkt vor meiner Haustür zum Platzen gebracht hatte.

„Ihr wolltet doch heute schon um 11 Uhr alles kehren!“, gab ich als Antwort. „Wo wart Ihr denn?“ „Ach, da mussten wir noch schlafen!“ meinte Meike keck. „Hast Du Hühnersuppe?“ „Ja klar!“ antwortete ich und lächelte die Bande verführerisch an. „Und frische Brötchen und Nutella sind auch da! Kommt, wir kehren gemeinsam alles zusammen und dann futtern wir!“

Etwas maulig packte sich Meike den Besen. „Wir wollten bei dir spielen und überhaupt: Warum muss ICH den Dreck jetzt wegräumen? Ich hab‘ den nicht gemacht!“ Die kleine Valentina war noch pfiffiger: „Meine Mama hat gesagt, ich muss hier nicht kehren!“

Jason schnappte sich jedoch das Kehrblech und den Handfeger und ich suchte die kleinen, goldenen Raketenteilchen auf, die der Valentina so gut gefielen, so dass sie ganz aus Versehen mithalf.

Fynn erzählte haufenweise Geschichten und drängelte: „Darf ich jetzt mal den Besen haben?“ Ich fühlte mich wie Tom Sawyer beim Zaunstreichen und eine Stunde später war der Platz sauber und die Kinderbande eroberte die Waschbecken. Nachdem die Hände sauber waren, war das Badezimmer richtig schön dreckig. Dann haben wir mit Klavier- und Trommelbegleitung „Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad“ gesungen und alle Spielzeuge im Wohnzimmer verteilt. Die wackelnde Sonnenblume verlor immer ihre Blätter, sie sang aber tapfer und beständig „You are my sunshine, my only sunshine …“

Endlich war die Suppe warm, die mit oder ohne Nutellabrötchen genommen wurde. Weil Fynn aber die Plastik-Kakerlake immer zu Valentina laufen ließ, suchte sie bei mir Schutz und deshalb ist der beige Sessel jetzt voller Nutella. Ich geh‘ jetzt mal schrubben und aufräumen: Mit dem Lesen fange ich dann morgen an.

Vom Vorlesen der Löcher

Es regnete in Strömen. Die Kinder und Jugendlichen der Gruppe „Lesezauber im Seniorenheim“ betraten das Altersheim. Alle waren gut vorbereitet, hatten geübt und ihre Bücher dabei. Die Seniorinnen und Senioren standen schon parat und lächelten voller Vorfreude. Die großen Mädchen gingen in die Wohngruppe der Demenzkranken. Ihr  stetiges Kichern war auf einmal verschwunden, sie lasen sehr gut und auch das Lied von der Vogelhochzeit klappte. Die alten Leute strahlten richtig beim Singen.

Die beiden russischen Mädchen begrüßten ihren Landsmann artig und gaben ihm die Hand. Er saß – wie immer – im Rollstuhl, früher war er LKW-Fahrer. Literatur war noch nie so sein Ding, aber das Vorlesen der Nachrichten aus einer russischen Internet-Zeitung gefällt ihm. Dabei war auch eine hübsche, russische  Praktikantin als Betreuerin. Die gefiel unserem LKW-Fahrer auch.

Die kleinsten Mädchen der Gruppe kommen aus Sri Lanka und Aserbaidschan. Sie waren mit dem Märchen vom ‚Tapferen Schneiderlein‘ gut ausgestattet. Ihre alte Dame war früher Schneiderin und erzählt nach dem Vorlesen immer. Wenn sie von ihrem verstorbenen Mann erzählt, sind ihre Geschichten traurig: Dann weinen alle. Deshalb geht immer ein Erwachsener mit.

Unser ‚Großer‘ – 14 Jahre alt, 1,80 Meter groß und kräftig – musste dieses Mal allein vorlesen. Sein Vorlesepartner war heute verhindert und wir erwachsenen Begleiterinnen und Begleiter trauten es ihm gerne zu. „Wir treffen uns in einer Stunde wieder hier unten in der Caféteria. Das ist um halb fünf, ok?“ Alle riefen „ok“ und liefen los. Eine Stunde später waren alle wieder da, nur unser ‚Großer‘ fehlte. Um kurz vor fünf kam er angehechtet.

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Du sollst beim Vorlesen nicht nudeln!

Seit einem Jahr üben wir. Die Gruppe heißt „Lesezauber im Seniorenheim“ und besteht aus 15 Mädchen und Jungen im Alter von 8 bis 15 Jahren. Alle haben einen Migrationshintergrund – die türkischen Kids sind zum Teil schon in der dritten Generation in Deutschland und antworten auf die Frage, wo sie geboren wurden, erstaunt und etwas angenervt mit „Klinikum!“. Die tamilischen, aserbaidschanischen und russischen Kinder sind fast alle erst vor kurzem zugewandert. Alle sind sehr motiviert und wollen den Menschen im Altersheim Freude bringen und Geschichten vorlesen. Die Regeln für das gute Vorlesen haben wir jetzt 10 Monate lang besprochen und trainiert. Wir wiederholen:

  • Man kann nicht aus einem Buch vorlesen, wenn man das Buch vergessen hat!
  • Man muss die Gefühle mitlesen!
  • Man soll die Zuhörer beim Vorlesen immer schön angucken!
  • Die Zuhörer wiederum gucken den Vorleser oder die Vorleserin an! Sie schlürfen während des Vorlesens nicht aus der Teetasse.
  • Lachanfälle beim Vorlesen sind doof, vor allem wenn die Geschichte gerade nicht lustig ist.
  • Man darf beim Vorlesen nicht nudeln! „Nudeln?“ schreit die Vorlesebande, „oh, lecker Nudeln, können wir uns Nudeln kochen? Oh bitte…!“ Weiterlesen

Shopping na Brasília

Die Goethe-Institute in Brasilien hatten mich eingeladen, im November und Dezember sechs Leseförderungsworkshops zu geben und einen Vortrag zu halten. Meine Freude war groß und ich flog hin. Zu der Zeit ist in Brasilien Sommer und es ist sehr heiß. Die Weihnachtsfrauen sitzen bei fast 40 Grad im Schatten auf den Plätzen herum und alle Welt sucht immer mal wieder einen klimatisierten Laden auf, um sich abzukühlen. Ich war zu diesem Zweck in einem Wäscheladen gelandet und schaute mir interessiert alle erdenklichen Geschirrtücher mit Weihnachtsmotiven an: Porto Alegre, meine erste Station,  ist damit reich gesegnet.  Doch noch war ich nicht fertig an meinem ersten, freien Tag.  Im Koffer lagen drei warme Strickjacken, aber zu wenige Sommerkleider, so dass mindestens ein neuer Fummel gekauft werden musste. Da die Brasilianer ganz selten englisch können und ich kein portugiesisch spreche, klappte die Verständigung irgendwie mit Händen und Füßen. Nach dem zehnten Klamottenladen hatte ich aber langsam die Nase voll: alles zu groß oder zu breit oder ohne Form. Aber da! „Das sind doch schöne Kleider!“ sagte ich laut zu mir selbst und betrat das Geschäft.

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