Da saß er nun, der Praktikant: 16 Jahre alt, Schüler der 11. Klasse, etwas schüchtern, zurückhaltend und irgendwie lieb. In seiner Bewerbung stand, dass er sich für das Schreiben und Lesen interessiere, und deshalb war er in meinem Fachgebiet gelandet, der interkulturellen Leseförderung.
„Warum hast Du Dich als Kollegschüler denn bei uns im Kommunalen Integrationszentrum als Praktikant beworben?“, frage ich zur Gesprächseröffnung mit einem offenen Lächeln.
„Ehm, ja also, ich stelle mir das hier ganz interessant vor.“ Die Antwort kam langsam und bedächtig.
„Und was genau stellst Du Dir vor?“
„Hm, also, so die Sprache und die Menschen. Das ist doch hier das Thema, oder?“
„Ja, das ist richtig!“, bestätige ich ihn. „Kannst du das noch genauer beschreiben?“
„Hmmh, also, naja …“
„OK, Du bist jetzt zwei Wochen bei uns und für die erste Woche habe ich ein schönes Projekt für Dich: Es ist ein internationaler Gedichtwettbewerb. Jugendliche aus aller Welt sind eingeladen, ihre drei Lieblingsgedichte zu nennen und zu beschreiben, warum sie diese Gedichte mögen und toll finden. Die Preisverleihung findet in Polen statt. Hast Du Lust, hier mitzumachen?“
„Mmh.“
„Super!“ freue ich mich und frage vorsichtig: „Kennst Du denn ein Gedicht?“
„Ehm, also … wir hatten da mal eins in der 10. Klasse. Ich hab‘ jetzt grad vergessen, wie es heißt. Warten Sie, ich denk‘ mal nach.“
Und so warteten wir: eine Minute, dann eine zweite, eine dritte und eine vierte. Der Junge rang mit sich, schlug die Stirn in Falten, vergrub die Hände in den Haaren und ich übte mich schwer in Geduld. In der vierten Minute kam das erste „Emmh“, dann wurde es wieder still.
Nach fünf Minuten kam ein hoffnungsvolles „Also“ und dann kam das Gedicht, wenigstens so ungefähr.
„Also, das handelte von einem Vater und einem Sohn!“
„Na, Gott sei Dank!“, jubelte ich innerlich und rezitierte laut: „Wer reitet so spät durch Nacht und Wind, es ist der Vater mit seinem Kind …“
Der Praktikant riss die Augen auf. „Ja genau! Das war es!“
Erst danach verriet er mir, dass er sein Praktikum eigentlich bei der Pressestelle machen wollte und heute die Zusage erhalten habe. „Können Sie mich da wohl hinbringen?“
Oh Gott, oh Goethe!