Es regnete in Strömen. Die Kinder und Jugendlichen der Gruppe „Lesezauber im Seniorenheim“ betraten das Altersheim. Alle waren gut vorbereitet, hatten geübt und ihre Bücher dabei. Die Seniorinnen und Senioren standen schon parat und lächelten voller Vorfreude. Die großen Mädchen gingen in die Wohngruppe der Demenzkranken. Ihr stetiges Kichern war auf einmal verschwunden, sie lasen sehr gut und auch das Lied von der Vogelhochzeit klappte. Die alten Leute strahlten richtig beim Singen.
Die beiden russischen Mädchen begrüßten ihren Landsmann artig und gaben ihm die Hand. Er saß – wie immer – im Rollstuhl, früher war er LKW-Fahrer. Literatur war noch nie so sein Ding, aber das Vorlesen der Nachrichten aus einer russischen Internet-Zeitung gefällt ihm. Dabei war auch eine hübsche, russische Praktikantin als Betreuerin. Die gefiel unserem LKW-Fahrer auch.
Die kleinsten Mädchen der Gruppe kommen aus Sri Lanka und Aserbaidschan. Sie waren mit dem Märchen vom ‚Tapferen Schneiderlein‘ gut ausgestattet. Ihre alte Dame war früher Schneiderin und erzählt nach dem Vorlesen immer. Wenn sie von ihrem verstorbenen Mann erzählt, sind ihre Geschichten traurig: Dann weinen alle. Deshalb geht immer ein Erwachsener mit.
Unser ‚Großer‘ – 14 Jahre alt, 1,80 Meter groß und kräftig – musste dieses Mal allein vorlesen. Sein Vorlesepartner war heute verhindert und wir erwachsenen Begleiterinnen und Begleiter trauten es ihm gerne zu. „Wir treffen uns in einer Stunde wieder hier unten in der Caféteria. Das ist um halb fünf, ok?“ Alle riefen „ok“ und liefen los. Eine Stunde später waren alle wieder da, nur unser ‚Großer‘ fehlte. Um kurz vor fünf kam er angehechtet.
„Na, wie hat deinem alten Herrn denn das Buch von Louis Sacher gefallen?“, fragte ich neugierig. „Gut!“ kam als Antwort. Ich war stolz auf den Jungen! Er hatte über eine Stunde aus dem Buch ‚Löcher‘ vorlesen.
Am nächsten Tag klingelte das Telefon. Die Kollegin vom sozialen Dienst des Altenheims war dran und beschwerte sich im Namen des alten Herrn über unseren ‚Großen‘. „Fernsehen gucken will ich lieber allein!“ ließ der Senior übermitteln.
Was war denn da passiert? Ich griff zum Telefon und machte mich schlau. Und das kam dabei heraus: Unser ‚Großer‘ hatte brav aus Louis Sachers Buch „Löcher“ vorgelesen. Nach drei Sätzen musste er jedoch furchtbar husten. Nach dem Husten wusste er nichts zu sagen und hat geschwiegen. Das Schweigen hat ziemlich lange gedauert, bestimmt fünf Minuten. Als der alte Herr dann vorschlug, ob sie sich vielleicht etwas im Fernsehen angucken sollen, hat der junge Mann „Ja gerne!“ gesagt. Und so haben die beiden dann eineinhalb Stunden vor dem Fernseher gesessen. Gehustet wurde dabei nicht.