Geh mal, tu mal, mach mal!

Schon im Rathausflur hatte der Mann mich angesprochen und mir seltsame Fragen gestellt. Nun folgte er mir unaufgefordert ins Büro, ließ sich auf meinen organgefarbenen Besucherstuhl plumpsen und machte es sich gemütlich. Er war mir völlig unbekannt, schon älter, humpelte und ging am Stock. Sein Mundwerk aber war voll funktionsfähig. „Habense vielleicht ’nen Kaffee für mich?“ Ich fixierte ihn genauer und setzte mein falsches Lächeln auf: „Nee, Kaffee is grad alle.“

„Egal, dann möchte ich jetzt bei Ihnen eine Patientenverfügung machen!“ „Eine Patientenverfügung?“ erwiderte ich ungläubig. „Wissen Sie, mein Job ist die interkulturelle Leseförderung. Sie könnten mir was vorlesen und wenn das gut ist, bilde ich Sie zum Vorlesepaten aus. Na, wie wär’s?“ „Neee!“ entgegnete der flotte Senior, „ich will ’ne Patientenverfügung von Ihnen!“ „Dafür schlage ich Ihnen vor, Ihren Arzt oder einen Notar zu konsultieren. Oder sie fragen mal an der Auskunft nach, ob jemand vom Gesundheitsamt helfen kann, ja!?“  „OK,“ kam als Antwort, „aber dafür rufen Sie jetzt mal  den Herrn Müller an, ich brauche einen Termin bei dem!“

So langsam merkte ich, wie meine Geduld zur Tür herausmarschierte. „Welchen Herrn Müller meinen Sie und wer sind eigentlich Sie?“ „Isch? Isch bin der Teddy Schmitz, ein alter Bekannter und  anrufen sollen Sie den Hansi Müller!“ Ich schaute im Telefonverzeichnis nach und fand den Hansi Müller dort gleich zwei Mal. In der Hoffnung, den Mann damit loszuwerdem, rief ich den ersten an. Der Kollege verneinte, diesen Teddy Schmitz überhaupt zu kennen. Auf meine Nachfrage, in welcher Sache denn der Termin notwendig sei, grinste der Teddy Schmitz  fröhlich und sagte:

„Och, ich wollte mal wieder ein Bierchen mit dem Hansi trinken!“

 

Vom Vorlesen der Löcher

Es regnete in Strömen. Die Kinder und Jugendlichen der Gruppe „Lesezauber im Seniorenheim“ betraten das Altersheim. Alle waren gut vorbereitet, hatten geübt und ihre Bücher dabei. Die Seniorinnen und Senioren standen schon parat und lächelten voller Vorfreude. Die großen Mädchen gingen in die Wohngruppe der Demenzkranken. Ihr  stetiges Kichern war auf einmal verschwunden, sie lasen sehr gut und auch das Lied von der Vogelhochzeit klappte. Die alten Leute strahlten richtig beim Singen.

Die beiden russischen Mädchen begrüßten ihren Landsmann artig und gaben ihm die Hand. Er saß – wie immer – im Rollstuhl, früher war er LKW-Fahrer. Literatur war noch nie so sein Ding, aber das Vorlesen der Nachrichten aus einer russischen Internet-Zeitung gefällt ihm. Dabei war auch eine hübsche, russische  Praktikantin als Betreuerin. Die gefiel unserem LKW-Fahrer auch.

Die kleinsten Mädchen der Gruppe kommen aus Sri Lanka und Aserbaidschan. Sie waren mit dem Märchen vom ‚Tapferen Schneiderlein‘ gut ausgestattet. Ihre alte Dame war früher Schneiderin und erzählt nach dem Vorlesen immer. Wenn sie von ihrem verstorbenen Mann erzählt, sind ihre Geschichten traurig: Dann weinen alle. Deshalb geht immer ein Erwachsener mit.

Unser ‚Großer‘ – 14 Jahre alt, 1,80 Meter groß und kräftig – musste dieses Mal allein vorlesen. Sein Vorlesepartner war heute verhindert und wir erwachsenen Begleiterinnen und Begleiter trauten es ihm gerne zu. „Wir treffen uns in einer Stunde wieder hier unten in der Caféteria. Das ist um halb fünf, ok?“ Alle riefen „ok“ und liefen los. Eine Stunde später waren alle wieder da, nur unser ‚Großer‘ fehlte. Um kurz vor fünf kam er angehechtet.

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Du sollst beim Vorlesen nicht nudeln!

Seit einem Jahr üben wir. Die Gruppe heißt „Lesezauber im Seniorenheim“ und besteht aus 15 Mädchen und Jungen im Alter von 8 bis 15 Jahren. Alle haben einen Migrationshintergrund – die türkischen Kids sind zum Teil schon in der dritten Generation in Deutschland und antworten auf die Frage, wo sie geboren wurden, erstaunt und etwas angenervt mit „Klinikum!“. Die tamilischen, aserbaidschanischen und russischen Kinder sind fast alle erst vor kurzem zugewandert. Alle sind sehr motiviert und wollen den Menschen im Altersheim Freude bringen und Geschichten vorlesen. Die Regeln für das gute Vorlesen haben wir jetzt 10 Monate lang besprochen und trainiert. Wir wiederholen:

  • Man kann nicht aus einem Buch vorlesen, wenn man das Buch vergessen hat!
  • Man muss die Gefühle mitlesen!
  • Man soll die Zuhörer beim Vorlesen immer schön angucken!
  • Die Zuhörer wiederum gucken den Vorleser oder die Vorleserin an! Sie schlürfen während des Vorlesens nicht aus der Teetasse.
  • Lachanfälle beim Vorlesen sind doof, vor allem wenn die Geschichte gerade nicht lustig ist.
  • Man darf beim Vorlesen nicht nudeln! „Nudeln?“ schreit die Vorlesebande, „oh, lecker Nudeln, können wir uns Nudeln kochen? Oh bitte…!“ Weiterlesen